Erb:innengemeinschaften. Sechs gemeinsame Tage auf dem Kunsthof Lietzen. Kompliz:innen aus drei Generationen sind gekommen − mit einer Verneigung vor dem Ort und vor den Frauen, die ihn gehalten haben und die ihn jetzt halten. Wir diskutieren, singen, essen, streiten, schwimmen, malen, lesen miteinander, hören zu. Wir verbinden uns auf Zeit zu einem lebendigen Körper. Eine Ost-West-AG-Etappe mit Bettina Grahs, Betty Schiel, Christine Müller-Stosch, Claudia Woloczyn, Erika Stürmer-Alex, Eva Busch, Heike Mildner, Johanna-Yasirra Kluhs, Kathrin Schwingel, Rike Fläming, Stefanie Görtz, Therese Koppe, Tina Bara
mit herzlichen Dank an die Endmoränen | Fotos von Tina Bara und Betty Schiel
Tine trägt ihre Gedanken zum Auftakt an einem runden Tisch vor:
Erben − was, von wem?
von Christine Müller-Stosch
Ich beziehe mich auf den Titel des Workshops von Eva Busch: „Ich erbe was, was du nicht erbst“. Beim ersten Nachdenken darüber stelle ich fest: Was ich geerbt habe oder erben werde, sowohl bezogen auf meine körperliche und psychische Beschaffenheit wie auch auf die sachlich-finanzielle Ebene, betrifft nur mich allein. Zugrunde liegt jeweils eine ganz eigene Familiengeschichte, unvergleichlich und einzigartig. Wir werden als Einzelwesen in eine bestimmte Familie, ein soziales Umfeld, in eine Region, ein Land und in eine bestimmte Zeit der Weltgeschichte hineingeboren.
Als ich das erste Mal von diesem Thema hörte, das sich die Ost-West-AG gestellt hat, fiel mir sogleich eine Menge Belastendes ein, nur nichts von Wert, das ich von meinen Vorfahren geerbt hätte. Danach weitete sich mein Blick, änderte sich die Richtung. Was habe ich herausgefunden?
Bis jetzt habe ich kein Geld, keine Eigentumswohnung, keine Gegenstände von Wert geerbt. Der Grund dafür liegt darin, dass unsere Familie aus Schlesien stammt und diejenigen, die das Kriegsende überlebt haben, nicht mehr als ihr Leben retten konnten. Dieses Schicksal teilen wir mit vielen anderen. Geerbt habe ich die Sehnsucht nach der „verlorenen Heimat“, die in unserer Familie, bei Eltern und Großmutter, täglich mit Händen zu greifen war. Dieses Erbe machte mir eine Beheimatung schwer. Sie ist, wenn auch relativ spät, gelungen.
Geerbt habe ich die Panik angesichts überraschender schwieriger Ereignisse. Im Alter von vier Jahren erlebte meine Mutter die Verzweiflung ihrer Mutter, als 1916 − während des ersten Weltkriegs − die Todesnachricht ihres Vaters eintraf. Man musste meine Großmutter in eine Nervenheilanstalt bringen, weil sie nicht aufhörte zu schreien. Meine Mutter hat dieses Erlebnis nie verarbeitet. Verstärkt wurde ihre Panik durch die überhastete Flucht auf einem Treck im Februar 1945 vor den heranrückenden russischen Soldaten, mit mir als Sechsjähriger und meinem neun Monate alten Bruder. So wurde manches Überraschende, was zum Leben gehört, immer gleich „ganz schlimm“; es fehlten die Abstufungen. Ich denke, dass wir alle ähnliche Beispiele in unserer Familien- und in unserer eigenen Geschichte finden. Solche und ähnliche „geerbte“ Verhaltensmuster gehören für mich auch zum Thema „Erben“. Da ich das Glück habe, alt geworden zu sein, konnte ich diese Zusammenhänge allmählich und mit therapeutischer Hilfe erkennen.
Inzwischen muss ich das Erbe akzeptieren, das ich nenne: „Ich habe den Krieg im Rücken.“ Die Verschiebung der Wirbelsäule (Skoliose), möglicherweise eine späte Folge der schlechten Ernährung in der Nachkriegszeit. Meine guten Zähne (vom Vater), die lebenslange Schwerhörigkeit (von der Großmutter und ihren Schwestern) – noch ein Erbe. Was meine Generation der über Achtzigjährigen besonders betrifft, ist das Gefühl von Schuld gegenüber den Juden und den Bewohnern der von der deutschen Wehrmacht überfallenen Länder. Dieses Gefühl wurde in der DDR besonders gegenüber der russischen Bevölkerung gepflegt. Das hatte eine große Wirkung, die bis heute anhält, auch bei mir ist das so. Zumal ich mich in einer Landschaft befinde, in der die heftigsten Kämpfe im April 1945 den Himmel so verdunkelt haben, dass die Sonne nicht mehr zu sehen war. Die Opfer unter den russischen und deutschen Soldaten − unzählbar. Dabei spielt eine große Rolle, dass wir im Osten tatsächlich von der Roten Armee befreit worden sind.
Die Ungleichheit der finanziellen und sozialen Verhältnisse in unserem Land gehört zum System, in dem wir leben. Das System haben wir von denen geerbt, die 1949 die Bundesrepublik Deutschland gegründet haben. So wie wir allein unserem damaligen, durchaus nicht immer selbst gewählten, Wohnort im Osten verdanken, dass wir 1949 zwangsweise Bürger der DDR wurden. Dieses Erbe kam jeweils über uns, ganz ohne unser Zutun. So wie auch die finanziellen Verhältnisse der Familien, in denen wir groß geworden sind, ohne unser Zutun so sind, wie sie sind.
Wie auch − und das ist die andere, schönere Seite − wir in unsere wunderbare deutsche Sprache hineingeboren worden sind, wenn sie unsere Muttersprache ist. Wie die Musik des Barock, wie Rock und Pop der vergangenen Jahrzehnte unser Erbe sind, wie die Literatur, wie alles das, was wir Bildung nennen. Die Teilhabe an dieser heilsamen und Kraft spendenden Seite des Erbens lässt mich dafür dankbar sein.
Die Frage der Umverteilung von Vermögen, der Blick auf gerechte Verteilung von Ressourcen ruft nach einer Veränderung des Systems. Diese sich vorzustellen, ist der erste Schritt zu einer grundlegenden Veränderung. Auch wenn ich sie nicht mehr erleben werde, hoffe ich darauf.
30. Juni 2022 in Lietzen/Märkisch-Oderland