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Wölf:innen Ost-West

    von Betty Schiel

    Wenn Wölfe wandern, wählen sie irgendeine Himmelsrichtung. Sie wissen ja nicht, dass es im Westen keine Wölfe mehr gibt.“ Ilka Reinhardt | Lupus Institut

    [GW 852m_Quelle:FVA Freiburg]

    Bis 1989 wurden Wölfe (aus Polen kommend) in der DDR abgeschossen. Mit der Wende wurde das verboten. Wölfe sind also Wiedervereinigungsgewinner:innen. Grenzstreifen wurden abgebaut, so liefen sie nach Westen. Gloria in Hünxe. GW852m im Schwarzwald. Sie kommen zurück und eignen sich das Terrain an. Wolf und Mensch haben nur dann eine Chance, wenn sie sich gegenseitig akzeptieren. Es ist eine gute Gelegenheit darüber zu reden, wie Ressourcen gleichberechtigt verteilt werden können zwischen mehr als nur menschlichen Wesen in Ost und West.

    TEIL 1
    Auf der Spur der Wölfe

    Betty Schiel trifft Martin Hauser am Forsthaus in Enzklösterle/Nordschwarzwald
    Mein Urgroßvater kommt aus einem kleinen Dorf im Schwarzwald. Vor etwa drei Jahren ist ein Wolf in das Tal gekommen und geblieben. Im Frühjahr 2021 treffen Stefanie Görtz, Pointerhündin Anuk und ich Martin Hauser, den Wildtierbeauftragten des Landkreis Rastatt, seine deutsche Wachtelhündin und deren kleine Enkelin. In Hausers Ressort fallen zwei große Beutegreifer, die seit einiger Zeit in der Region eingewandert sind: Ein Luchs, der auf den Namen Toni getauft wurde und ein Wolf, der unter der Signatur GW852m geführt wird. Über den will ich mehr wissen. Seine Ankunft brachte viele Emotionen hoch und Martin Hauser zu einem neuen Job. In dem Gespräch, das wir auf einem Spaziergang im Wald hinter dem Forsthaus führen, wird schnell klar, dass er sich vor allem als Moderator versteht. Was ihm dabei hilft, ist gesunder Menschenverstand. Martin Hauser ist hier verwurzelt, spricht den Dialekt der Menschen, er kennt sein Revier, und er hat kein Interesse an Eskalation.

    GW852m
    Über die Interessen des Wolfes GW852w kann man natürlich nur spekulieren. Auf jeden Fall hat er sein Rudel verlassen auf der Suche nach einem neuen Revier. Er ist ungefähr vier Jahre alt und allein unterwegs, stammt aus dem Schneverdinger Rudel (Niedersachsen). Er ist zu Fuß in den Nordschwarzwald gekommen und geblieben. Er konnte nicht wissen, dass es außer ihm dort erst mal keine anderen Wölfe gibt. Weil er schon seit rund drei Jahren in der Gegend lebt, kann man davon ausgehen, dass er auch bleiben möchte. Der Wolf ist da, weil es für ihn eine gute Gegend ist, und eine Wölfin wird auch kommen. Denn in Deutschland ist bisher nur ein einziger Wolf in vierzig Jahren einsam gestorben. Wenn eine Wölfin dazu käme, würde er wahrscheinlich mit ihr ein Rudel gründen. Ansonsten will er anscheinend in Ruhe gelassen werden, weil er laut Martin Hauser die Nähe zu Menschen nicht sucht. Ab und zu läuft er an einer Fotofalle vorbei, die ihn dokumentiert. Bevorzugt bewegt er sich auf Menschenwegen fort, weil er da ökonomisch Strecke machen kann. Zum Glück meidet er Autos. (Die meisten Wölfe kommen in Deutschland bei Verkehrsunfälle ums Leben.) Imponierend am Wolf ist sein Selbstvertrauen. Er weiß um seine Stärke. Er jagt, um zu fressen − etwa 5 Kilo Fleisch am Tag.

    Wolf und Schafe
    Relativ kurz nach seiner Ankunft im Nordschwarzwald hat GW852m in Bad Wildbad 40 Schafe auf ein Mal gerissen. Zum Fressen kam er am nächsten Tag nicht, weil Martin Hauser, die Polizei und etwa 20 weitere Personen den Ort des Geschehens begutachteten. Aus Sicht des betroffenen Schäfers und vieler anderer Menschen hat GW852m hier einen großen Fehler gemacht. Es wird eine scharfe Trennlinie gezogen zwischen Tieren, die Menschen gehören und Wildtieren. Es ist also für ein konfliktfreies Zusammenleben zwischen dem Wolf und den Menschen besser, wenn er zum Beispiel Rehe jagt und verspeist. Martin Hauser vermutet, dass der Wolf eine Lektion gelernt hat, weil er von dieser übertriebenen Jagd am nächsten Tag überhaupt keinen Nutzen hatte.

    Die Nutztierhalter werden inhaltlich und finanziell dabei unterstützt, ihre Tiere vor dem Wolf zu schützen. Die gute Nachricht ist, dass man inzwischen gelernt hat, besser miteinander auszukommen. Zuerst waren die Leute vor allem verunsichert, hatten Angst und reagierten auch aggressiv. Ihr Handwerk zählt nicht mehr so viel wie ehedem, die Fleisch-und Wollpreise sind niedrig im Verhältnis zum Aufwand der Arbeit. Der Wolfsriss war das Tröpfchen, dass das Fass zum überlaufen brachte – sowohl ökonomisch („1 Wolf = 40 Schafe / 2 Wölfe= 80 Schafe“) als auch emotional, denn die toten Tiere, die in ihrer Obhut waren, sind ein schockierender Anblick. Sowohl der Wolf als auch die Schäfer haben dazu gelernt. Wäre nicht die Aktion an einer schlecht geschützten Ziegenherde im Januar gewesen, hätte Martin Hauser sich über ein komplettes Jahr ohne Wolfsriss freuen können. Aber alles in allem scheint die Bilanz auf dieser Ebene handhabbar. Wenn GW852m ein Haustier tötet, wird das wie jeder andere eindeutige Nachweis (genetischer Beleg, Trittsiegel, Foto, Totfund usw.) als sogenannter C1 (harter Fakt) auf der Webseite des Umweltministeriums veröffentlicht. Das ist Teil des transparenten Umgangs mit dem Wolf, den Martin Hauser für essentiell hält. Nicht jedes tote Schaf geht auf das Konto von GW852m.

    Wolf und Jäger
    Zwei weitere Konfliktfelder sind laut Martin Hauser die Angst vor dem zähnefletschenden Wolf bei zufälligen Begegnungen im Wald (die sind sehr unwahrscheinlich und gab es auch noch nicht, weil der Wolf sich nicht für Menschen interessiert) und die Revier-Aufteilung mit den Jägern, die dasselbe Beuteschema haben aber den Wolf praktisch nie sichten. Martin Hauser ist selbst seit Jahrzehnten Jäger. Allerdings hat in letzter Zeit sein Impuls auf Tiere zu schießen abgenommen. Ob das etwas mit seiner neuen Aufgabe zu tun hat, wird auf Nachfrage nicht ganz klar – ich vermute es aber. Sein ausgeprägtes Wissen und Interesse an der Jagd verschafft ihm auf jeden Fall Glaubwürdigkeit in der Szene. Krass war auch für ihn die indirekt zugetragene Meinung eines Jagdausbilders: „Beim Wolf gelten die drei S: Schießen, schaufeln, schweigen.“ Wenn ihm einer so drastisch käme, würde Martin Hauser auch vor einer Anzeige nicht zurückschrecken. Er betont aber im Gespräch, dass es keinen Sinn mache, in der Wolfs-Angelegenheit auf Konflikt zu setzen.

    Distanz und Nähe
    Anders als der Luchs mit dem Namen Toni, ist GW852m nicht mit einem Sendehalsband versehen worden. Das würde anscheinend zu viel Vertrautheit herstellen –  auch wenn Martin Hauser die Daten seiner Bewegungen interessieren würden: Kennt GW852m Toni? Halten sie sich gleichzeitig am selben Ort auf? Wie verhält sich der Wolf im Revier? Verlässt er das Gebiet nach erfolgreicher Jagd? Wo schläft er? Es gab den Versuch einer Namensgebung durch eine Lokalzeitung, die aber nicht gezündet hat. Martin Hauser findet, dass man den Wolf nicht verniedlichen und ihm respektvoll gegenüber treten sollte.

    Obwohl Toni und GW852m die gleichen Tiere erlegen, trägt der Luchs von Haus aus nicht dasselbe schwere emotionale und symbolische Gepäck. Es ist extrem unwahrscheinlich, den Luchs zu sichten ohne die Hilfe der Ortung durch sein Sendehalsband, die Martin Hauser ständig kontrolliert. Martin Hauser übt maßvolle Herrschaft aus, weiß genau, wo Toni sich aufhält, auch wenn er respektvollen Abstand zum Luchs hält. Das verbindet die beiden eng miteinander. Als der Luchs mal mehrere Wochen nicht sendete und das Projekt eingestellt werden sollte, war Martin Hauser sehr betrübt. Just an demselben Abend konnte er ihn in der Nähe vom alten Schloss in Baden-Baden wieder orten (was Gänsehaut bei ihm ausgelöst hat) und am nächsten Tag auf dem Merkur, dem höchsten Gipfel in der Gegend, das Signal klar empfangen.

    Kurioserweise hatten wir Martin Hauser einige Tage vorher im Wald hinter unserem Häuschen getroffen und auch kurz gesprochen, ohne ihn zu erkennen. Wir kamen ihm komisch vor mit einer überproportional langen Schleppleine am Hund, er kam uns wortkarg vor, wie die meisten, denen man hier zufällig im Wald über den Weg läuft. Es stellte sich heraus, dass er unterwegs war, um einen Luchs-Riss zu sichten. Ein Reh direkt hinter der Wiese, die wir jeden Tag kreuz und quer durchlaufen.

    Toni jagt, frisst und lebt offensichtlich nur ein paar Hundert Meter von unserem Häuschen entfernt, aber ich habe zu ihm noch kein engeres Gefühl als zu Fuchs, Wildkatze oder Marder.

    Der Wolf aber bringt mein inneres Gefüge zum Beben und inspiriert mich, über das grundlegende Verhältnis zwischen Menschen und anderen Tieren nachzudenken. Der Wolf war das erste Tier, mit dem Menschen vor Zehntausenden Jahren in kooperativen Kontakt getreten sind. Um ihn ranken sich Sagen und Mythen in allen frühen Kulturen. Er ist Teil der Götterwelt. Und er wurde im Mittelalter zum ärgsten Feind des Menschen stilisiert – ein übernatürliches Wesen in direktem Konnex mit dem Teufel. Davon spricht Martin Hauser nicht, weil es für seine Aufgabe auch nichts bringt, genauso wenig wie irgendwelche Statistiken oder Forschungsberichte, die die skeptischen Leute im Schwarzwald nicht überzeugen. Martin Hauser vermittelt zwischen einem Wolf und vielen Menschen. Faktisch gibt es derzeit nur sehr wenige Menschen, deren Ressourcen vom Wolf direkt bedroht sind und sehr viele, die eine über Jahrhunderte gepflegte Angst äußern. Martin Hauser ist sich sicher, dass wir mit dem Wolf in der Nachbarschaft nicht so weiter machen können wie bisher. Als Förster sieht er einen auf Gewinnmaximierung ausgerichteten Waldbetrieb, der nur dem Menschen dient, mit Unbehagen. Es lohnt sich nicht, findet er.