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Inventur Mitwelt

    von Eva Lochner

    Berlin-Mitte ca. 1985. Sirkka – als größtes Mädchen der Klasse – versteckt hinter ihren Mitschüler:innen

    „[Die Mitwelt] umgibt den Einzelnen nicht nur wie die Umwelt, sie erfüllt ihn nicht nur wie die Innenwelt, sondern sie steht durch ihn hindurch, er ist sie.“[i]

    Vor einigen Jahren sah ich einen Klassiker des späten DDR-Kinos: den Dokumentarfilm „Winter Adé“ von Helke Misselwitz von 1988, der mich sehr berührte. Misselwitz portraitiert dort die Lebenswelten einiger Frauen verschiedenen Alters und unterschiedlicher sozialer Herkunft und befragt sie empathisch und wertefrei zu ihren Hoffnungen und Wünschen. Humorvoll oder verzweifelt, immer ehrlich und natürlich wie sie sich zeigen, fühle ich mich diesen Frauen nah. Und wie wohl viele andere, die den Film kennen, frage ich mich, was ihnen in den folgen Jahren des Umbruchs widerfuhr.

    Über die Sympathie für Misselwitz’ Frauen hinaus gibt es aber auch noch ein bestimmtes Etwas, das mich an „Winter Adé“ fasziniert, ja verblüfft. Dieses Etwas liegt weniger in dem, was der Film zeigt, als in der Art, wie die portraitierten Frauen mit Heike Misselwitz sprechen. Man spürt da eine Art von Vertrauen unter scheinbar Fremden, das völlig selbstverständlich und ungekünstelt wirkt. So, als kenne man sich schon, als wäre das zögernde Abtasten, ob und wie man sich denn versteht, das sich normalerweise unter Menschen vollzieht, die sich erst seit kurzem kennen, nicht notwendig. Als komme Misstrauen gar nicht in Betracht. Natürlich mag das eine Projektion sein, auf der Machart des Films beruhen oder schlicht darauf zurückzuführen sein, dass Misselwitz sich ihre Protagonisten ausgesucht hat. Aber dieser Eindruck ist zu stark, als dass es nur daran liegen könnte. „Winter Adé“ erzählt ganz unwillkürlich auch von einem gesellschaftlichen Gefühl der späten DDR, das vielleicht erst eine „Nachgeborene“ aus der südwestdeutschen Mittelschicht wie mich, erwachsen geworden in diesem so völlig „entgrenzten“ frühen 21. Jahrhundert, so erstaunt.

    Wie lässt sich dieses Gefühl begreifen, nachvollziehen, benennen? Jenseits „ostalgischen“ Kitschs hat diese Frage soweit ich weiß bisher noch nicht allzu viele überzeugende Antworten erhalten. Desto mehr hat sich mir der Begriff der „personalen Vergesellschaftung“ eingeprägt, mit dem der ehemalige Bürgerrechtler, studierte Philosoph und langjährige Ostberliner Fabrikarbeiter Klaus Wolfram den besonderen Charakter sozialer Beziehungen der späten DDR zu fassen versucht. In einem kurzen Text für den ehemaligen Blog der Castorf’schen Volksbühne, betitelt „Ostdeutsche Einsamkeit“[ii] und veröffentlicht am 26. Jahrestag der „Deutschen Einheit“, schilderte Wolfram 2016, was er darunter versteht: „Personale Vergesellschaftung“ sei das, was sich seit den frühen 1970er Jahren eingestellt habe, als die politische Entwicklung der DDR zu stagnieren begann, die Menschen aber dennoch nicht aufgehört hätten, „sich wie Subjekte zu verhalten“. Weil „die unpraktischen Bedingungen weitgehend gleich waren“ im prekären, aber grundsätzlich verlässlichen DDR-Sozialstaat, und Konkurrenz kaum eine, die gegenseitige Hilfe aber eine umso größere Rolle spielten, „rückten persönliche Beziehungen bald an die erste Stelle“. Während der Staat die Initiative sukzessive verlor, habe die Bevölkerung eine Art alltagspraktischen Gemeinsinn entwickelt, der überhaupt erst die Voraussetzung für kollektive gewaltlose Politisierung geschaffen habe. Auch über die Differenzen und Brüche der Zeit nach 1989 habe sich dieser Gemeinsinn im Wesentlichen erhalten, ohne dass er im Rahmen der medialen Machtverhältnisse öffentlich-politisch habe entfalten können.

    Für diese Behauptung, die Wolfram vor zwei Jahren bei einer Rede in der Akademie der Künste, die für einige Furore sorgte, wiederholte, ist er scharf kritisiert worden.[iii] Und man kann sich natürlich fragen, ob der sperrige Ausdruck „personale Vergesellschaftung“ nicht vieles verdeckt – nicht zuletzt das westdeutsche Lieblingsthema, die Stasi, deren Spitzelwesen ja nicht zuletzt in Wolframs Umfeld, den Ostberliner Künstler:innen und Intellektuellen, für viel Misstrauen und zerbrochene Freundschaften sorgte. Aber wenn man seine Worte genau liest, merkt man, dass er nichts romantisiert: Die Verbundenheit, die er rückblickend entdeckt, wird nämlich nicht naiv durch einen „guten Charakter“ der Ostdeutschen erklärt, sondern durch die Umstände, unter denen die Menschen lebten. Ihr ausgeprägter Gemeinsinn war eher etwas zufälliges, aus der Not geborenes und eben der einfachen Tatsache geschuldetes, dass sie aufeinander angewiesen waren und auf eigene Faust wenig erreichen konnten.

    „Winter Adé“ und Wolframs Text im Kopf, kam mir die Idee, meine Ex-Kolleginnen aus der Semper Oper Dresden, die ich während meiner Studienzeit kennengelernt hatte, zu ihren Erfahrungen und ihrer „Mitwelt“ zu befragen – sprich: zu ihrer Biographie als Menschen-in-Gesellschaft (bzw. Menschen-in-zwei-Gesellschaften), als Freund:innen und Nachbar:innen, als Kolleg:innen und Verwandte. Was, so wollte ich wissen, sind ihre Erinnerungen an ihre Beziehungsnetzwerke und Freundschaften? Welche Folgen hatte der „Systemwechsel“ für ihr Empfinden von Identität, Solidarität und Handlungsfähigkeit? Welche Beziehungen blieben nach ’89 erhalten, welche nicht? Wie haben sie selbst und ihr Umfeld sich gewandelt, als System, Gesellschaft und Personen gleichzeitig in Bewegung gerieten? Durch welche Form der Mitwelt wurden sie geprägt und wie ist ihr persönlicher Blick darauf damals und heute?

    Nach Kontaktaufnahme gelang es mir, sechs meiner Ex-Kolleginnen im Mai 2021 in Dresden und Görlitz zu interviewen: Sirkka, Peggy, Ulrike, Sandra, Pia und Paula. Die Frauen sind Jahrgang 1968–81, waren also zum Zeitpunkt der Wende 8-21 Jahre alt und damit relativ jung. Dazu stammen sie aus sehr unterschiedlichen Herkunftsmilieus: aus dem provinziellem oder urbanem Raum, christlich oder atheistisch erzogen, aufgewachsen in sozial stabilen oder instabilen Familienverhältnissen, aus angepasst-kleinbürgerlichen und dissident-intellektuellen Milieus. Dementsprechend divers sind ihre Erinnerungen. Und dementsprechend heterogen sind auch die Erinnerungen an das „Existenzgefühl“ als individueller Teil der ostdeutschen Gesellschaft.

    Es ging mir nicht darum, allgemeingültige Aussagen über die Erfahrungen ostdeutscher Frauen in der Wendezeit zu entwickeln, sondern darum, unbedarft einer Vermutung nachzugehen. Da ich den Gesprächsfluss nicht unterbrechen wollte, sondern neugierig darauf war, was für die Gesprächspartnerinnen vordringlich ist, kamen unterschiedlichste Erinnerungen und auch Abseitiges zur Sprache.

    Vertrauen und Misstrauen

    Alle meine ehemaligen Kolleginnen waren in den späten 1980er Jahren Kinder, Jugendliche oder junge Erwachsene. Obwohl das öffentliche Erziehungswesen sich in der DDR regional kaum unterschied, waren die familiären Konstellationen sehr verschieden: Sirkka – ihre Mutter alleinerziehend und beruflich selbstständig – war in der Wochenkrippe weshalb sie die „intensive Bindung zu ihrer Mutter verloren“ habe. Paulas Mutter wurde gekündigt, weil sie ihre des Öfteren kranke Tochter pflegte. Pias Eltern arbeiteten schon, bevor sie alleine aufstand und zur Schule ging und verbrachte die Freizeit auf der Straße mit den Kindern aus der Nachbarschaft.

    Für Ulrike, die 1969 in Sachsen geboren wurde und Ende der 1980er Jahre Maskenbild in Dresden studierte, hatte die von der DDR-Führung beschworene Solidarität wenig mit der Wirklichkeit zu tun. Die Beziehungen jenseits von Familie und Freundschaften seien nicht anders als heute meist pragmatischer Art gewesen, wobei der Mangel an Geld eine große Rolle gespielt habe: „Du hast du den anderen gebraucht, deswegen musstest du dich arrangieren. Du konntest es dir nicht wirklich mit jemanden verscherzen. Du hast es getragen, du bist Kompromisse eingegangen. Heute ist das Geld das was zählt, und dadurch brauchst du den anderen nicht. Jetzt geht es uns allen zu gut.“ Wenn Solidarität ganz praktisch heiße „zu begreifen, was braucht der andere und was kann ich ihm das geben“, so meint sie, dann hätten „wir“ das „eigentlich in der DDR gelernt, wir haben ja auch immer aus nichts irgendwas gemacht.“

    Peggy, deren Eltern „in der Kirche waren“, hat sich bei den Kirchentreffen „n bisschen geborgener gefühlt. Dann hattest du wieder Schule und musstest sehen, dass du dich da bisschen durchschlängelst. Ich glaube wir haben schon gelernt zwei Sprachen zu sprechen und hinzuhören. Wer sagt denn da jetzt gerade was und was will er denn gerne hören.“ Von dieser scharfen Trennung zwischen privat-familiären und öffentlich-ideologischen Codes zeugt auch Paulas Beispiel, die von ihren Eltern darauf eingeschworen wurde nicht in der Schule zu erzählen, dass sie „Wetten dass..?“ im ZDF geschaut habe. Auch wenn ihre Eltern dafür keine gute Erklärung hatten, spürte sie, dass es gefährlich werden könnte und hielt sich daran. Offenbar wurden Geheimnisse gehütet, von denen vermutlich alle wussten, aber man nahm sich vor offenen und expliziten Bekundungen in Acht, um sich nicht in Bredouille zu bringen.

    Pia hingegen, die „im Vergleich zu ihren Freunden, nicht den Drang“ verspürte, „in den Westen oder raus wollte“ erinnert sich nicht daran, unter Beschränkungen, die ihr etwas verwehrt hätten, gelitten zu haben. Sie gewinnt dem wirtschaftlichen Mangel etwas Positives ab. Indem man* „alles hegen und pflegen musste“ erhielten die Dinge eine Aufwertung. Wirtschaftliche Schwierigkeiten wurden nicht als solche empfunden, denn die selbständigen und gewerbetreibenden (parteilosen) Eltern waren gut vernetzt und bei Bauarbeiten am Haus half man sich gegenseitig bei gemeinsamen Aktionen zu „Bier und Hackepeter-Semmeln“ aus.

    Wirklich politische Verständigung und ein gesellschaftliches Bewusstsein untereinander gab es bis Ende der 80er wohl wenig. So meinte Sirkka. Man habe „schon bisschen Problem“ gehabt „sich überhaupt mit einer gefestigten Meinung zu äußern“. Dazu habe auch der Mut gefehlt. Allerdings „ob du’s gesagt hättest oder nicht, es hat sowieso keine Sau interessiert. Da kam doch nie ein Feedback. Außer dass du vielleicht nicht den Job bekommen hättest, den du gewollt hättest, oder die Beförderung. Aber um so etwas ging es am Schluss ja gar nicht mehr, da ging es nur noch um Prämien.“

    Der Aufbruch und der Selbstermächtigung ’89 wird von den meisten Befragten als ein unvergleichliches Gemeinschaftsgefühl beschrieben, bei der alle am gleichen Strang gezogen haben. „Es gab gemeinsame Sache, diese eine, man wollte die Grenze weghaben. Alle wollten das gleiche – und das friedlich“: die Freiheit des Redens und Reisens. „Wahrscheinlich war es genau das, das eben auch diese Revolution ausgelöst hat, dass alle gelaufen sind. Das wird nie mehr passieren. nie mehr.“ vermutet Peggy. Und Ulrike stimmt dem bei und meint, dass im Vergleich zu damals „heute jeder seine eigenen Interessen durchsetzen“ wolle. Keine:r hatte damit gerechnet, dass sich alles im Zuge der freien Marktwirtschaft so radikal ändern würde. Vor allem die Oppositionsbewegung hatte sich keine nationale Einheit, sondern eine eigene Demokratisierungsreform der DDR vorgestellt.

    Von wirklichem „Vertrauen“ unter Unbekannten war bei keiner der sechs Frauen die Rede, eher im Gegenteil. Alle sprechen von einem latenten Grundmisstrauen – in Peggys Worten: „Wer ist wirklich dein Freund? Kannst halt nicht reingucken.“ Dieses Misstrauen habe sich, so Paula, nach der Wende bestätigt, „weil man* rausgefunden hat, wer jetzt alles gespitzelt hat“; und sie zitiert den Kommentar ihres Vaters nach Einsicht seiner Stasiakte: „In der Akte stehen Leute drinnen, von denen hätte ich das im Leben nicht gedacht“. Sirkka, die im Dissident:innenkreis aufwuchs und Ende der 1980er ihr Abitur machte, erinnert sich an das angespannte und bedrohlich-ängstliche Stimmung am Sitz der Robert-Havemann-Gesellschaft in der Schliemannstraße, wo sie manchmal war: „Wie die sich verhalten haben, wenn sie wussten ok, jetzt ist es bisschen brenzlig, und es könnte sein, dass jetzt hier gerade irgendwie Leute kommen und uns abholen. Dieses Gefühl war immer irgendwie da.“ Ähnlich ging es ihr bei ihrem Blockflötenlehrer Andreas: „Du warst nicht unbedingt willkommen, wenn du geklopft hast. Es hat immer eine ganze Weile gedauert, bis jemand aufgemacht hat. Ganz komisches Verhalten. Aber ja, irgendwie begründet.“

    Zurechtkommen nach ’89

    Während infolge der Wende bessere Entwicklungsmöglichkeiten für die junge Genreration entstanden, waren vor allem die Eltern- und Großelterngeneration betroffen von Existenzsorgen, Jobverlust und damit einhergehender Entwertung von Qualifikationen und Biografien. Für diese Generationen wurde der familiäre Zusammenhalt in dieser Zeit umso wichtiger, wie Paula betont, deren Familie auf dem Land bei Wittenberg lebt: „Das ist jetzt noch das, was jetzt noch sicher ist. Hier wissen wir die sind alle da und klar auf die kann man sich verlassen.“ Dass ihre Mutter, die erst als Lebensmittelchemikerin, dann als Postfrau arbeitete, arbeitslos wurde, habe „sie wirklich nur mit Mühe und Not verkraftet […] Sie hatte einfach wahnsinnige Schwierigkeiten damit darüber hinweg zu kommen. Weil es ja nichts anderes gab. Also es gab zumindest nicht ohne dass man jetzt komplett neu starten würde, gab’s halt nichts was sie hätte beruflich machen könne. Und sie hatte immer ne Arbeit und sie hat sich immer gebraucht gefühlt. Das war für die ganze Familie echt schwer.“ Berichtet wird auch von anderen Bekannten, denen Sicherheiten genommen wurden, die nicht mehr zurechtkamen und ins soziale Abseits gerieten. „Mein Stiefvater war zehn Monate im Bau und wurde dann ausgewiesen. Er hat dort drüben auch keinen Fuß auf den Boden bekommen und hat sich ’95 umgebracht.“, erzählt Sirkka.

    Freundschaften zerbrachen vor allem durch räumliche Veränderung aufgrund besserer Jobaussichten. Paula verlor ihre damalig beste Freundin, die mit ihren Eltern überraschend in den Westen zog: „das hat schon echt ein Loch gerissen.“ Vor allem die Freundin Bella wäre an dem Wegzug fast zerbrochen. Doch sie ist dortgeblieben, hat mittlerweile den kurpfälzischen Dialekt angenommen, doch wenn die beiden sprechen „verfallen sie sofort in ihren Heimatdialekt.“ Noch heute fragt sie sich was aus der Freundschaft geworden wäre, „wenn es diesen Bruch nicht gegeben hätte, der uns so aufgezwungen wurde?“

    Für Sirkka hingegen entstanden erst dann „richtige“ Beziehungen „als das dann 86/87 aufbrach, wo das mit der Kirche von Unten losging. Da hatte ich dann meine Clique in der Sophienstraße. Bin ich immer hin. Sind immer auf’s Dach und haben da irgendwelche Parys gefeiert und Reiswein getrunken“. Als Tochter einer Dissidentin war sie bislang in der Position der Außenseiterin gewesen und hatte in der Schule „eigentlich überhaupt keine Freunde. Ich habe mich auch nicht getraut jemanden nach Hause mitzubringen. Geburtstagsfeiern und so vielen aus. Mir war das unangenehm. Ich hatte so eine Form von Eskapismus. Ich habe damals unglaublich viel gelesen. Ich habe Bücher verschlungen, auch Bücher, die ich überhaupt nicht verstanden habe. Hauptsache irgendwie weg innerlich. Das war ganz wichtig. Zerbrechen gab’s nicht. Es gab nur vorne, nach vorne. Das ist aber auch ein bisschen ein Manko. Weil ich auch gerne die Dinge einfach abgeschnitten habe und nicht mehr zurückzucken mag. Und das ist nicht so toll immer.“

     Peggy kommt aus Lübben, „wo eigentlich am Wochenende immer Konzerte waren. Und man hat sich getroffen und dann hat man sich die ganze Woche nicht gesehen und dann hat man sich wieder getroffen und gefreut und hallo und manchmal hat man auch mal einen Urlaub verbracht. Da ist alles zerbrochen, die waren auch dann in alle Winde zerstreut. Wir mussten uns erstmal selber orientieren. Du bist ja in ein Loch gefallen.“ Noch im September ´89 war sie mit ihrem Mann, vom Schwiegervater behangen mit Schmuck, damit sie dann „bissl Geld haben“ über Ungarn geflohen. Ihre Eltern hatten sie dazu gedrängt, ihre Geschwister durften nichts davon wissen.  Über sechs Jahre lebte sie in Stuttgart und spricht von einem bis sie wieder nach Görlitz zogen um näher bei der Familie zu sein.

    Identität

    Im Gespräch wird deutlich: die Beobachtung der Andersartigkeit zum Westen scheint ausschlaggebend für die Entwicklung einer veränderten Identität als Ostdeutsche*. So sieht Sirkka in der ostdeutschen Sozialisation in einer Gesellschaft, die wenig Perspektiven für individuelle Karrieren, Reichtumsversprechen oder Selbstverwirklichung durch Arbeit bot: „Es war schnell das Ende erreicht, deshalb hat sich keiner ums Fortkommen und Status gekümmert. Jeder Arbeiter und jeder Professor waren auf einer Ebene. Es gib nicht so die individuelle Entwicklung in dem Sinne und war auch verpönt. Man hatte für die Gesellschaft zu arbeiten und nicht für dich selbst um dich zu bereichern. Und im Westen ist das eindeutig so, dass das gefördert wird, wenn du dich selbst entwickelt, und musst noch dies und jenen Abschluss machen und noch ne Fortbildung.“

    Dass es sehr schnell um Status und Leistung geht, stellt Sirkka oft fest im Gespräch mit Menschen, die im Westen sozialisiert wurden, aber auch bei der jüngeren Generation im Osten. Dieses Merkmal beginnt sie zunehmend zu stören. Bei anderen besteht die Vermutung, dass Menschen, die im Osten sozialisiert wurden, „anders Texte lesen“, denn man habe „wirklich gelernt zwischen den Zeilen zu lesen“.

    Alle sind der Meinung, dass die Wende viel zu schnell ging, viele versorgende und fortschrittliche Regelungen nicht übernommen wurden und dass sich keine ostdeutsche Öffentlichkeit etablieren konnte. Die Spielregeln waren die des Landes, dem beigetreten wurde – wobei zunächst ja mit mehrheitlicher „Zustimmung der Übernommenen“[iv]. Sirkka erlebte das konfliktreiche neue Aufeinandertreffen in der Volksbühne Berlin, als viele Mitarbeiter:innen von der Freien Volksbühne (heute Haus der Berliner Festspiele) aus Berlin-West kamen, deren Zuschüsse von Senat gestrichen wurden. „Das war eigentlich mal gar nicht so blöd, dass Ost und West zusammengearbeitet haben. Es gab zu Beginn eine ganz klare Ablehnung von beiden Seiten. Also ich glaub ma’, ich sag’s mal so plump, dass die Wessis so ’n bisschen das Gefühl hatten sie müssten uns was erklären und die Ossis haben sich da ein bisschen überfahren gefühlt. Das war schon spannend.“ Die Spannungen hätten sich wohl „über die Zeit nicht aufgelöst, aber wir ham irgendwie ’nen Weg gefunden. Das war irgendwie cool. Ich finde das ganz angenehm zu beobachten. Mir haben sie immer vorgeworfen, dass ich mit den Wessis rede.“

    Ein auffällig wichtiges Thema ist für mehrere Frauen die Unterrepräsentanz von Ostdeutschen in der gesamtdeutschen und v.a. ostdeutschen Öffentlichkeit und Elite.[1] „Es sind ja auch viele Stelle ad hoc von westdeutschen Leuten besetzt worden, was echt ein Fehler war. Eigentlich bräuchte man eine Ostdeutsche Quote oder was“, meint Sirkka. „Ich würde das schon begrüßen. Ich fand das damals schon erschreckend, dass auf einmal der technische Direktor ein Westdeutscher war, der vom KBB-Leiter war ein Westtyp, der Verwaltungsleiter war eine Westfrau. Zumal es ja Leute gegeben hätte, die das durchaus gut hätten machen können.“

    Peggy schließt aus diesem Unmut ihre Konsequenzen und formuliert es drastischer: „Und deswegen orientieren sich ja einige auch wieder, und die dann sagen, ‚oh ich bin froh, dass ich im Osten aufgewachsen bin, und bin froh, dass ich jetzt hier lebe und ich will hier nicht mehr weg.‘ Diese Spaltung ist ganz tief. Schau mal, du hast hier den MDR, wer sitzt denn drin. Da ist Kachelmann, dann ist die Kim Fisher, die ist doch auch Westberlin. Überall ist dieser Stempel heute aufgedrückt. Das das wollen die Leute dann auch nicht so. Und die Politiker, die kannst du ja ganz vergessen. Und die ostdeutsch-Ostdeutsche die war ja am Ende eine Hamburg-Geborene, [lacht], ganz schlimm. Oder Bündnis 90/Die Grünen, wer sagt noch Bündnis ’90? Du hörst nur noch die Grünen.“

    Demgegenüber hat Sirkka eher den Eindruck, der Ostdeutsche „mag sich gar nicht so“ und es fehle ihm an „Selbstbewusstsein“. Dabei gibt sie Gysi wieder, der mal gesagt habe er verstehe gar nicht, „warum die Ostdeutschen nicht endlich auch kapieren, dass sie großartig sind, weil sie in zwei Gesellschaftsordnungen existieren können. Das man sich überhaupt mal vorstellen muss, was das bedeutet.“ Und sie schließt mit der Einschätzung, dass eine Resignation nach gescheiterten Erwartungen eintrat: „Viele haben sich eben halt, nachdem sie so viele Hoffnungen geschöpft haben, dass das nach der Wende jetzt endlich für die losgeht und dann durch Jobverlust und Existenzsorgen und wahrscheinlich auch gar nicht kapiert haben, was da alles so abläuft. Viele haben sich danach glaube ich echt aufgegeben.“

    Für meine Ex-Kolleginnen gibt es kaum einen nostalgischen Bezug zur DDR-Gesellschaft. Dennoch bejahen sie, dass soziale Kontakte für lebenswichtige Ressourcen wie Ausbildungsplätze oder den Tausch von Waren und Dienstleistung von hoher Bedeutung waren. Westkontakte oder Arbeitsplätze mit Zugang zu wenig verfügbaren Produkten – wie z.B. Peggys Job im Kinderbekleidungsladen – waren im Zweifel wichtiger als ein hohes Einkommen. Für Ulrike stellt sich im Rückblick zudem das positive Gefühl des Miteinander-Arbeitens her: Man* habe sich stärker aufeinander bezogen, schlicht weil es einem ökonomisch „nicht so gut ging und vieles nicht einfach kaufen konnte“. Sirkka zufolge gab es für Nicht-Parteitreue einfach wenig Aufstiegschance, deshalb habe man sich durch die Auflösung beruflicher Hierarchien im „Arbeiter- und Bauernstaat“ notwendigerweise stark aneinander orientiert.

    Die Erinnerungen an die obligatorischen Schul- und FDJ-Aktivitäten sind widersprüchlich. Das scheint viel mit dem jeweiligen Hintergrund in mehr oder weniger „angepassten“ Familien zu tun zu haben.  Sirkka, die etwa vergleicht die FDJ mit der Beschreibung ihrer Großmutter von der Hitlerjugend: „Sie halt viel unternommen haben in der Zeit und viel gefördert wurde und als es dann mit dem Essen knapp war, haben sie ja in diesen Vereinen auch so die Versorgung gehabt und Unterschlupf gefunden, was dann ja zu Ostzeiten genauso wieder war; FDJ-Jugend und Pioniere, das wurde ja auch im Prinzip so gepflegt, diese Form von … eigentlich dieselben Muster. Fahnenappell. Wenn du da nicht warst, warst du ja raus, es gab ja keine andere Alternative ne, es gab ja nichts anderes.“

    Pragmatismus und Gegenidentifikation

    Aus den Berichten wird deutlich, wie sehr Überheblichkeit und das „Sich-als-was-Besseres-fühlen“ noch immer verpönt sind. Auch Träume, Visionen und ehrgeizige Lebensziele gelten den Frauen eher als gefährliches Wunschdenken. Diese Art Pragmatismus kommt oft mit trocknem Witz daher. Ich habe mit starken, engagierten Frauenpersönlichkeiten gesprochen, für die finanzielle Unabhängigkeit eine wichtige Rolle spielt und die ohne Ausnahme selbstbewusst ihre Meinung vertreten. Ihr Zugehörigkeitsgefühl zum „Osten“ scheint heute – 30 Jahre später – wichtiger geworden zu sein. Auch wenn die „Identitätsfrage“ den Frauen unterschiedlich wichtig ist, scheint sie einen gewissen widerständlerischen Charakter zu haben. Manches scheint nicht weiter kommentarlos hingenommen zu werden, eine wachsende Unduldsamkeit klingt durch.

    Wie hängt das zusammen mit der „Winter Adé“-Stimmung, mit Wolframs Behauptung der so spezifischen „ostdeutschen Beziehungen“? Von Romantisierung, so viel ist sicher, halten meine Ex-Kolleginnen genauso wenig wie Wolfram: Von einer besonderen „Vertrautheit“ oder ähnlichem kann keine Rede sein, eher schon das Gegenteil. Dass man pragmatisch stärker aufeinander angewiesen war, steht für sie außer Zweifel. Aber das scheint, wie ja im Grunde auch zu vermuten, nur vereinzelt mit Sympathie einhergegangen zu sein. Auf Tauschbeziehungen angewiesen zu sein, geht nicht unbedingt mit positiven Gefühlen diesen Beziehungen gegenüber einher – womöglich eher im Gegenteil, war diese Abhängigkeit doch verbunden mit einem Bewusstsein fehlender Autonomie. Auch wenn die Frauen die Zeit nach ’89 als eine schwere erinnern und vor allem im Familien- und Bekanntenkreis mit harten Schicksalen konfrontiert waren, sehnt sich keine von ihnen in die Zeit davor zurück. Das gilt nicht zuletzt für Sirkka, politisierte Tochter einer Dissidentin aus Berlin, die Flöte oder Kunst studieren wollte, die früher nicht verstand, dass ihr dies und anderes wegen dem „politisch unliebsamen“ Umfeld der Mutter verwehrt wurde.

    Die nüchterne und illusionslose Retrospektive ist aber nur die eine Seite. Ihr stehen auf schwer zu bestimmende Weise die Reaktionen auf die fast ausnahmslos negativen Erfahrungen mit „dem Westen“ gegenüber, von denen die Frauen berichten. Peggy, eine Spreewälderin, die mit ihrem Freund, einem Punker und Wehrdienstverweigerer, vor der ihm drohenden Haftstrafe floh, erinnert sich lebhaft an ihre Zeit im Stuttgart der 1990er, wo es geheißen habe, „die Zonis können nicht arbeiten und nehmen Arbeitsplätze weg“. Deshalb zeigt sie Verständnis dafür, dass da „so n ein gewisser Zorn jetzt kommt auf die ganzen Leute, die jetzt als Flüchtlinge kommen, eine Wohnung eingerichtet bekommen, überhaupt eine Wohnung bekommen. Wir haben geschrieben, geschrieben, geschrieben, wir haben keine Wohnung bekommen.“

    Im Gespräch wurde deutlich, dass die Nachfrage nach den Brüchen ausgelöst durch die Revolution, im persönlichen Empfinden gar nicht so in den Blick genommen werden. Es werden dagegen vielmehr Kontinuitäten wahrgenommen und Schicksalsschläge als Schicksalsschläge, die vor allem im Privaten z.B. durch Krankheiten und Trennungen erlebt werden, während gesellschaftlicher Wandel erst mit einem größeren zeitlichen Abstand beschrieben wird. Dass Ereignisse erst nach 30 Jahren Geschichte werden hat auch zu tun mit Lebenszyklen. Es lässt klar sagen, dass die befragten Frauen sich grundsätzlich nicht nach dem DDR-Leben zurücksehnen wegen „all der Grenzen in jeglicher Hinsicht“, „auch wenn nicht alles schlecht war“. Sie genießen die Freiheit und haben selber was daraus gemacht sowie etwas aus der alten Gesellschaft mitgenommen. 

    Peggy in einer traditionellen Spreewaldtracht ca. 1987. „Mit 16 in der Spreewaldtracht. Die Tracht ist ne geerbte von einer alten
    Spreewälderin, und die wurden damals verkauft und aufgearbeitet, pass ich heute noch rein. Spintekränzchen, da tanzen am Tage nur die Frauen.“ Rechts: „Erster West-Urlaub in der Schweiz. Ich liebe Zürich“

    Mein Dank gilt den Gesprächspartnerinnen Sirkka, Sandra, Ulrike, Paula, Peggy und Pia, sowie Andreas Häckermann und Stefanie Köhler bei Konzeption und Text.


    [1] Dies bestätigen wissenschaftlichen Untersuchungen, nach denen je nach Quelle nur 1,7%-3% aller Spitzenpositionen mit Ostdeutschen besetzt sind. Darunter sind aber überproportional viele Frauen. Bei einem Ostdeutsche Bevölkerungsanteil von 90% in Ostdeutschland sind nur 20-30% ostdeutsche-sozialisierte in Spitzenpositionen. Schönherr und Jacobs 2019, Kollmorgen 2017, Bluhm/Jacobs 2016

    [i]    Helmut Plessner, Die Stufen des Organischen und der Mensch. Einleitung in die philosophische Anthropologie. Gesammelte Schriften, Bd. IV. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, S. 343

    [ii] Klaus Wolfram in: Denkzeichen CXXII: Ostdeutsche Einsamkeit. volksbuehne-berlin.de vom 03. Oktober 2016

    [iii]  Siehe z.B. Ilko-Sascha Kowalczuk in: „Wo waren die, die dagegen waren?“, von Ilko-Sascha Kowalczuk, in: Berliner Zeitung vom 15. April 2020.

    [iv]  Daniela Dahn in: https://www.nd-aktuell.de/artikel/1129740.daniela-dahn-das-gift-nach-dem-beben.html

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